Ingrid Kaiser-Kaplaner
|
Im Vorwort schreibt Univ.-Prof. Dr. Michael Derndarsky u. a.:"Geschichte hat mehrere Funktionen: zunächst bringt sie uns Vergangenes nahe, indem sie es beschreibt und damit eine ehemalige Gegenwart rekonstruiert. Doch sollte man sich dessen bewußt sein, daß nicht nur das Wissen von früheren Ereignisabläufen Geschichte ausmacht, sondern auch das Wissen und deren Ursachen und deren Bedeutung, und dieses entsteht durch das Denken über die Vergangenheit und ihre Beschreibung. Auch solcherart wird Vergangenes nahe gebracht, weil man es zu verstehen lernt. Und schließlich führt dies mit sich, daß Geschichte darüber hinaus auch lehren kann, wenn wir nur bereit sind, aus ihr etwas zu lernen. Ihre Aussage muß im übrigen nicht kategorisch sein, da es an uns liegt, die Ergebnisse zu finden, zu verstehen und zu verarbeiten. Die dieser Vorbemerkung folgenden Seiten bieten Geschichte, die von der Leserin und dem Leser verarbeitet werden können und verarbeitet werden sollen. Es geht um ein Stück Zeitgeschichte, das für manche noch die selbst erlebte Zeit umschließt, für andere zumindest jene Zeit, die sie aus den miterlebten Erzählungen innerhalb der Familie oder aus dem Bekanntenkreis kennen, und es betrifft eine Zeit, die geschildert wurde von lebenden Personen, die gleichzeitig überlebende Personen sind. Ein tragischer Umstand - die Aussiedlung bzw. Vertreibung aus der jahrhundertealten Heimat in kriegerischer Zeit - bildet den Auslöser für die vorgelegte Untersuchung, und es ist dies, wie wir mit Bedauern erkennen müssen, ein Hintergrund, der unverändert aktuell sein kann, selbst im Europa des ausklingenden 20. Jahrhunderts. Dabei hätte dieses aus zwei Weltkriegen die Lehre ziehen sollen, nicht wieder derartige Situationen zu provozieren. Wird wenigstens uns hier das eine Lehre sein? Die Autorin hat betrieben, was man methodisch als 'oral history' bezeichnet; es ist dies ein wichtiges Erkenntnismittel, über das allein die Zeithistoriker verfügen, die solcherart nicht nur bestehende Quellen benützen, auf deren Auswertung nun einmal alle Geschichtsschreibung beruht, sondern auch noch selbst Quellen beisteuern können. Für dieses Buch wurden ehemalige Gottscheerinnen, die sich weiterhin als Gottscheerinnen (ihrer Herkunft nach) fühlen, wenngleich sie aufgrund ihrer Exilierung keine (bodenständigen) Gottscheerinnen mehr sein können, über ihr Schicksal befragt. 30 Lebensläufe, aus der Erinnerung zurückgerufen und wiederentstanden, sind so als authentische Zeugenberichte Quellen, die wir der Autorin verdanken, und bilden das Substrat der Darstellung; Lebensläufe, die ansonsten mit ihren Erzählerinnen dem Vergessen anheimgefallen wären und gerade noch in der familiären Tradition eine Rolle gespielt hätten, die von Jahr zu Jahr und von Generation zu Generation geringer geworden wäre. Es zeigt sich nun in diesem Werk, daß die gesammelten Lebensläufe keineswegs einer einzigen biografischen Schablone folgen und selbstredend individuell sind, abhängig von den spezifischen schicksalsbestimmenden Komponenten der jeweiligen persönlichen Anlage. Trotzdem sind es Lebensläufe, die schon wegen der Thematik dieses Buches Gemeinsamkeiten aufweisen, und es sind Lebensläufe, die aufgrund ihrer durchaus großen Zahl bereits wieder den Anspruch erheben können, in ihrer Summe von Einzelschicksalen auch typisch zu wirken und ein allgemeingültiges Bild vom Leben und vom Erleben in der Gottschee wiederzugeben. Auch in diesem Sinn ist das Buch zu lesen: Es gibt eine Zeit wieder, die entschwunden ist. Nicht nur, daß die einstigen Gottscheerinnen nicht mehr in der Gottschee wohnen, die sie in ihren Erinnerungen beschreiben, nein, auch die gewandelten allgemeinen Verhältnisse führen dazu, daß im folgenden sozial- und kulturgeschichtlich eine Zeit dokumentiert wird, die heute aller Brauchtumspflege und allen Volkstumsbemühungen zum Trotz nicht mehr existiert, die aber in ähnlicher Weise - mutatis mutandis - auch sonst im (mittel)europäischen Raum und in ländlichen und kleinbürgerlichen Lebensverhältnissen üblich gewesen ist. Wieder wird es an den Lesenden liegen, hier das allgemein Typische vom gottscheerischen Besonderen zu trennen, um sich ein Bild von der Gottscheer Vergangenheit zu machen und um sich das damalige Leben zu vergegenwärtigen. Auch werden Leserin und Leser das Wissen vom einstigen Leben in der Gottschee mit seinen ganz spezifischen Eigenarten in Verbindung setzen müssen mit den allgemeinen historischen Ereignissen, um zu verstehen, warum im Lauf unseres Jahrhunderts eine Gemeinschaft, die von sich den Eindruck vermitteln kann, gewissermaßen 'immer schon so' gewesen zu sein, durch eben diese Ereignisse schnell und gewaltsam aufgelöst, ja ausgelöscht wurde. Ohne lang zu rechnen, wieviel Einfluß der oder die Einzelne auf die sogenannte große Politik nehmen kann - denn immer wird es dabei bleiben, daß man im ganzen ein machtloses Glied in einer riesigen Kette war, aber deren Form doch die Summe der einzelnen Bestandteile bildet - , so muß bewußt bleiben, daß dem geschilderten Alltag ein politischer Hintergrund kontrastiert, der in seiner Bedeutung gleichzeitig nicht wahrgenommen und erst im nachhinein erkannt wurde. Über die Köpfe der Betroffenen hinweg wurde deren Schicksal entschieden, dessen Verlauf sie freilich selbst auskosten mußten. Und weil es die Überlebenden sind, die sich hier erinnern (können), so wird ein eindrucksvolles Bild von Lebenskraft und Improvisationsfähigkeit geliefert. Man möge aber nicht jene vergessen, die in der Tragik der Zeitläufe ums Leben gekommen sind, und man sollte, um auf die ersten Zeilen dieser Betrachtung zurückzukommen, auch das Wissen um das Schicksal der Gottschee und ihrer Bewohner dazu benützen, um seine eigene Lehre daraus zu ziehen, die auf künftige Verhinderung von Ähnlichem abziehen soll. Immerhin läßt sich in diesem Fall das Positive erwähnen, daß dank der mittlerweile geänderten Verhältnisse man bereit ist, ungeachtet der Belastungen der Vergangenheit eine neue Form der Begegnung, des Wiedersehens, der Pflege der Erinnerungen und der Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu versuchen, die unter einem versöhnlichen Aspekt steht und nicht die historischen Ereignisse zur Aufrechnung und Fortsetzung von Feindseligkeiten verwendet." |
Created by Johannes Kaiser-Kaplaner - www.musica.at, Mühlbach 44 A-9184 St.Jakob im Rosental Fon/Fax: +43 1253 3033 8989 UID: ATU26852901 |